Vortrag: Zum (Spannungs-)Verhältnis von Schwulenbewegung und Aidshilfe – Die AIDS-Krise als Katalysator von Institutionalisierung und Anerkennung
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Mit Beginn der 1980er Jahre hat sich hierzulande eine Schwulenbewegung herausgebildet, die im Anschluss an die Emanzipationspolitiken des vorhergehenden Jahrzehnts erste politische Erfolge zu verzeichnen hat. In diese hoffnungsfrohe Zeit des Aufbruchs einer etablierten politischen Bewegung bricht dann jedoch eine existentielle Bedrohung herein, die bald den Namen AIDS tragen soll. Schwule Männer sehen sich fortan nicht nur einer tödlichen Krankheit gegenüber, die sie in ihrem individuellen wie kollektiven Fortbestehen bedroht, sondern ebenso einer Gesellschaft, die ihrem massenhaften Sterben schulterzuckend zuschaut oder dieses sogar freudig begrüßt.
Mittlerweile ist die AIDS-Krise zumindest in den westlichen Industrienationen überstanden. Mit der medizinischen Behandelbarkeit und der Chronifizierung der HIV-Infektionen ging zudem eine Beruhigung und Normalisierung im sozialen Umgang einher. Die vier großen Buchstaben haben ihren einstigen Schrecken weitgehend verloren und die hitzigen politischen Debatten sind schon lang zu einem unerwartet versöhnlichen Ende gekommen. Diese Entwicklung eröffnet die Möglichkeit eines retrospektiv eher nüchterneren Blickes auf die AIDS-Epidemie und ihre Auswirkungen auf das schwule Leben in Deutschland.
Ein solcher Blick offenbart, dass die AIDS-Krise jenseits des kollektiven Traumas für schwule Männer auch positive Auswirkungen auf die Infrastruktur der schwulenpolitischen Bewegung, die Sichtbarkeit ihrer Forderungen und die gesellschaftliche Anerkennung schwuler L(i)ebensweisen hatte. So zeigt sich, dass die im Zuge der Epidemie entstandene bundesdeutsche Kooperation zwischen der schwulen AIDS-Selbsthilfe und dem staatlichen Gesundheitswesen zu einer Institutionalisierung und damit größeren politischen Handlungsfähigkeit schwulenpolitischer Bestrebungen führte.
Im Vortrag soll es darum gehen, diese Entwicklungen nachzuzeichnen und damit die zunächst befremdlich anmutende Deutung der AIDS-Krise als Katalysator der Schwulenbewegung zu ermöglichen. Darüber hinaus soll auch aufgezeigt werden, wie das Bündnis mit dem bis dato verhassten Staat der Entradikalisierung der Bewegung den Weg ebnete, die bis heute die schwulenpolitischen Bestrebungen bestimmt.
Martin Thiele lebt und arbeitet im lauschigen Halle an der Saale. Er ist Diplom-Erziehungswissenschaftler und als Berater, Präventionist und Geschäftsführer für die AIDS-Hilfe Halle/Sachsen-Anhalt Süd e.V. tätig. Seit nunmehr über 10 Jahren engagiert er sich theoretisch wie praktisch im Kontext politischer LSBTIQ- und HIV/AIDS-Bewegungen. Sein aktivistisches Engagement bewegt sich entsprechend im Bereich emanzipatorischer Sexual- und Geschlechterpolitiken. Er findet Corgis ungemein putzig, liebt Sushi über alle Maßen und liest zur Entspannung französische Sozialphilosophie, was allerdings in keinem engerem Zusammenhang mit seinem Beitrag im Rahmen der Vorlesungsreihe steht.